Im Dienst der Nächstenliebe

Nach 18 Jahren im Einsatz der Grünberger Diakonie gelingt nach Flucht und Vertreibung der Neubeginn auf Hermannswerder: Oberin Hertha von Zedlitz prägt eine starke und selbstbewusste evangelische Schwesternschaft. Ihre Kompetenzen weiß man im städtischen Inselkrankenhaus sehr zu schätzen. Das ist ein Anachronismus in der säkularen DDR.

  • 1895 geboren in Hannover – 1964 gestorben auf Hermannswerder
  • 1927 Eintritt in das Mutterhaus Bethesda in Grünberg/Schlesien
  • 1932 Einsegnung als Diakonisse
  • 1945 kriegsbedingte Flucht mit den Grünberger Schwestern in die Diakonissenanstalt Dresden und Leipzig-Lindenau
  • 1948 Übersiedlung nach Hermannswerder, Oberin des vereinigten Mutterhauses Bethesda-Hermannswerder
  • 1949 komplette Übernahme der Krankenpflege auf 8 Stationen mit insgesamt 240 Betten im städtischen Inselkrankenhaus

Rund 220 Diakonissen leben und arbeiten seit 1901 in der großzügigen Anlage des „Evangelischen Schwesternvereins Bethesda“ im schlesischen Grünberg. Ähnlich wie in Hermannswerder mit Krankenhaus, Krankenpflegeschule sowie Haushaltungs- und Erzieherinnenschule. Die wichtige und fruchtbare Arbeit findet ein jähes Ende mit dem Zusammenbruch der Kriegsfronten 1945: „Zum Ende waren Soldaten rückwärts, vorwärts. Flüchtlinge rückwärts, vorwärts. So ging das alle Tage und Nächte.“

Innerhalb von zwei Tagen müssen die 175 Schwestern, angeführt von Oberin Hertha von Zedlitz, ihre schlesische Heimat verlassen. Schlimmer noch: Kranke, Alte, Kleinkinder und Säuglinge müssen zurückgelassen werden. Einer Flucht bei 23 Grad Kälte fühlen sich viele nicht gewachsen. Trotzdem sind es endlose Trecks, die mühsam durch den tiefen Schnee dahinziehen. Erst bis nach Dresden zu einem befreundeten Mutterhaus. Mit den immer drastischeren Flüchtlingsströmen dann weiter nach Leipzig. Genau einen Tag später, am 13. Februar, erfolgt der große Luftangriff auf Dresden. Mit einem Volltreffer in das gerade verlassene Mutterhaus.

Kaum in Leipzig angekommen, erreicht die erschöpfte Oberin ein Hilferuf aus Grünberg. Unerschütterlich im Dienst der Nächstenliebe kehrt sie noch einmal zurück in das gewaltige Kriegstreiben der Ostfront. Leistet Hilfe in der zurückgebliebenen Zivilbevölkerung. Die meisten Gebäude stark beschädigt. Alles in Auflösung. Zu Tausenden strömen die Flüchtlinge vom Bahnhof zurück. „Die größte Not liegt zunächst hier. Es soll niemand traurig sein: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes. Sind wir nicht glückliche Leute?“

Dann schießt die sowjetische Artillerie Grünberg sturmreif. Überall gibt es unendlich viel Leid, Angst, Krankheit und Tod. Im Juni 1945 folgt die fristlose Ausweisung der Deutschen durch die polnische Verwaltung. Erneut macht sich Hertha von Zedlitz mit einigen Schwestern im Flüchtlingstreck Richtung Leipzig auf.

Dort bleiben die Grünberger Schwestern die nächsten drei Jahre – bis sich der Oberin 1948 endlich eine neue Perspektive eröffnet: Hermannswerder. Mit Aussicht auf Fusion der beiden Mutterhäuser.

Die einen brauchen eine neue Heimat und die anderen dringend mehr Nachwuchs. Eine klassische „Win-Win-Situation“. Damit ist nicht nur ein Neustart für die vereinigten Schwesternschaften gesichert, sondern auch das diakonische Leben auf der Insel: „Eins steht fest, Hermannswerder ist ein wunderschönes Fleckchen Erde mit großen Möglichkeiten für die Reichsgottesarbeit“, so die Oberin.

In einem kraftvollen Brief wendet sie sich an die 279 Schwestern und gibt den Impuls für den Aufbruch in eine neue Ära: „So wollen wir denn gemeinsam ein neues Werk aus altem Stamm frisch beginnen. Wir wollen uns freuen des gemeinsamen Wanderns, Arbeitens und Betens. Gottes Geschenk ist es, dass wir mit vereinten Kräften helfen dürfen, diakonischen Raum zurückzugewinnen.“

Zu viert und zu sechst in kleinen Zimmern zusammengedrängt, mit knappen Lebensmitteln und der Beseitigung von Tonnen an Luftschutzsand und Trümmern erwacht das christliche Gemeinschaftsleben im Mutterhaus. Haupttätigkeitsfeld wird die Krankenpflege: Ab Oktober 1949 übernimmt die unermüdliche Oberin die 8 Stationen mit insgesamt 240 Betten des inzwischen städtischen Inselkrankenhauses. Nebst Großküche im Mutterhaus.

Auch die Ausbildung darf ihrer Ansicht nach nicht zu kurz kommen: Neben der klassischen Krankenpflegeausbildung zu „Verbandsschwestern“, erfreut sich auch der einjährige und kostenfreie „Haustöchter Kreis“ zur Ausbildung diakonischer Hilfskräfte wachsender Nachfrage. Leider ohne Zukunft aufgrund des staatlichen Bildungsmonopols.

Selbstbewusst fordert Oberin Hertha von Zedlitz nun auch eine angemessene Position innerhalb der Hoffbauer-Stiftung: „Nach anfänglichem Erstaunen, ja gewissem Widerspruch von Seiten der maßgeblichen Herren im Kuratorium, hat sich Kurator Ministerialrat Grünbaum in einer Besprechung mit Frau Oberin und mir stark auf unsere Seite gestellt. Er ist bereit, die Struktur der Stiftung entsprechend zu überprüfen, so dass das Mutterhaus eine möglichst große Selbstständigkeit und Entfaltungsmöglichkeit hat“, berichtet Pfarrer Martin Müller im November 1950. Eine gesonderte Etat-Gestaltung für „größeren Bewegungsfreiheit“ gibt es obendrauf.

Zu Beginn der fünfziger Jahre erlangt das Mutterhaus seine zentrale Position in der Hoffbauer-Stiftung zurück und kann seine Kraft wieder voll entfalten: „Wir wissen uns als Glied der Inneren Mission der Evangelischen Kirche in Deutschland und stehen dementsprechend zu deren Aufgaben: Dienst an den Bedürftigen und Verkündigung des Evangeliums auch außerhalb des gottesdienstlichen Raums, wie und wann es möglich ist“, so die Oberin.

Im Jahr 1998 eröffnet das zum Altenpflegeheim „Hertha von Zedlitz“ umgebaute historische Krankenhaus. Ihr Name wird auf der Insel untrennbar mit dem Wiederaufbau einer starken Mutterhausdiakonie als ideeller christlicher Nukleus in Zeiten der DDR verbunden bleiben.