Ein neuer Beruf als Berufung

An das neue Ausbildungsformat stellt sie hohe Ansprüche. Professionelle Altenarbeit bedeutet für Gerhild Kapust immer eine Balance zwischen zu viel und zu wenig, Selbstbestimmtheit und Betreuung, Vorgabe und Autonomie. Neben neuen Ausbildungsinhalten bietet Hermannswerder den unschlagbaren Standortvorteil durch eine enge Verflechtung von Praxis und Theorie – eine Erfolgsgeschichte.

  • Geboren 1942 in Berlin – gestorben 2005 in Potsdam
  • Tochter von Oberkonsistorialrat Kurt Kunkel, Mitglied des Kuratoriums der Stiftung
  • Besuch der Westberliner privaten Kant-Schule, Abschluss durch Mauerbau nicht möglich
  • 1961 - Abschluss der Reifeprüfung auf dem 2. Bildungsweg, Praktikum im Oberlinhaus
  • 1964 - 1969 Theologiestudium an der Humboldt-Universität
  • 1969 - 1983 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Strahleninstitut Potsdam, Bibliothekarin
  • 1981 - 1986 Fernstudium, Abschluss als „Informator“
  • 05.04.1983 Eintritt in die Stiftung als Bibliothekarin und Archivarin
  • 01.09.1983 Ernennung zur Leiterin des Geriatrie-Seminars Hermannswerder,
  • Start mit 22 Schülerinnen
  • 1990 - Stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Stiftung, Leiterin der ersten anerkannten Schule für Altenpflege, Vorgängerin der Schule für Sozialwesen mit 500 Schülerinnen und Schülern
  • 2003 - Verabschiedung in den Ruhestand
  • Auszeichnung mit der Johann-Hinrich-Wichern Plakette des DWBO

Eine veränderte Sicht auf gegenüber älteren Menschen ist notwendig, findet Gerhild Kapust. Mit dieser Grundüberzeugung übernimmt sie ab 1983 die Leitung des Geriatrie-Seminars. Es ist 1978 die erste Einrichtung dieser Art in der DDR. Die Notwendigkeit und den Bedarf erkennt die Hoffbauer-Stiftung recht früh und versteht das als christlich-diakonischen Auftrag, der sozialistische Staat nämlich kümmert sich wenig um seine alten und nicht mehr produktiven Menschen.

Bereits in den ersten Jahren gelingt es ihr, ein anspruchsvolles Ausbildungsprofil zu entwickeln. Als Grundpfeiler der Altenpflegeausbildung gilt ihr ein modernes Berufsverständnis durch die Neubesinnung auf Ganzheitlichkeit und Integration. Den Schülern wird deutlich gemacht, dass Pflege individuell ist und sich an den Bedürfnissen jedes einzelnen alten Menschen orientiert. Dazu gehört mehr als die Befriedigung aller Bedürfnisse in den elementaren Lebensbereichen. Der Blick der Pflege wird nicht auf die Symptome und Defizite konzentriert, sondern setzt da Schwerpunkte, wo Stärken vorhanden sind und Ressourcen gezielt einbezogen werden können. Auf diese Weise kann man sich am Befinden und nicht nur am Befund des Patienten orientieren. Dadurch werden seine individuelle Persönlichkeit, seine Lebensqualität und seine Prägung einbezogen. Die ganzheitliche Betrachtungsweise schließt ethische Verantwortlichkeit ein und ist als dynamischer Prozess zu verstehen.

Der medizinisch-pflegerische Ausbildungsbereich besteht aus Grundpflege, Behandlungspflege und aktivierender Pflege; hinzu kommen Altengymnastik, helfende Gespräche sowie die Begleitung und Pflege Sterbender. Die Seminarteilnehmer kommen aus den unterschiedlichsten beruflichen Fachbereichen und wollen nun mit dieser Ausbildung umsteigen. Von Elektromonteuren bis Wirtschaftskaufleuten ist alles dabei.

Im Laufe der achtziger Jahre etablieren sich Seminar und Altenpflege als integraler diakonischer Betriebsteil der Hofbauer-Stiftung. Das Niveau und die Ausbildungsqualität können sich an den westdeutschen Standards messen lassen, weshalb Studienleiterin Kapust „die politische Wende formal als problemlos“ einschätzt. Immerhin bestehen seit 1985 gute Kontakte zu westdeutschen Partnerschulen. Eine optimale Chance, die „Lehrpläne schon vor der Wende auf West-Niveau zu bringen.“

Dennoch ändern sich 1989 die Rahmenbedingungen vollständig: Der Weg aus einer Nische im Schutz von Kirche und Diakonie ist nun offen für neue Optionen. Die tüchtige Studienleiterin nutzt die Situation:  Auf dem Weg vom Geriatrie-Seminar zur Fachschule für Altenpflege/Sozialwesen im Jahr 1991 wachsen die Ausbildungsfelder um den Fachbereich Sozialpädagogik (1993) und Heilpädagogik (1995).

Für die Fachschulleiterin steht jetzt mehr denn je „die Motivation der Schüler“ im Vordergrund: „Vom ersten bis zum letzten Tag ihrer Ausbildung sollen sie die Freude nicht verlieren.“ Nur so, meint sie, kann auch später die Arbeit in der Altenpflege mit Einfühlungsvermögen und Ausdauer versehen werden. Unter den neuen Bedingungen gelingt Kapust eine beachtliche Entwicklung: Im Jahr 2000 besuchen immerhin 375 Auszubildende die Fachschule.

Zum Schuljahresbeginn 2002/2003 beginnen dann schon 519 Jugendliche ihre Ausbildung. Und auch die Defizite des vergangenen Jahrzehnts, die den schwierigen Umbruchjahren geschuldet sind, sind inzwischen überwunden und eine kostendeckende Betriebsführung eine Selbstverständlichkeit. Im März 2003 geht Gerhild Kapust in den Ruhestand. Sie hinterlässt eine blühende Bildungseinrichtung mit stetig wachsender Nachfrage.

Für ihre über die Stiftung hinaus wirkenden Verdienste wird sie am 14. März 2003 mit der Johann-Hinrich-Wichern-Plakette des DWBO ausgezeichnet.

Ihren Lebensabend mit ihrer Familie zu genießen ist ihr nicht vergönnt. Erst wenige Tage im Ruhestand wird eine Krebserkrankung diagnostiziert, an der sie verstirbt.